Treiben lassen
Mit der Barke vier Tage auf der Weser
„Seid doch mal still!“, fleht Heiko vom Steuerplatz ins Boot. „Jetzt hört mal diese Natur!“ Und wirklich: Wind rauscht in den Bäumen, Vögel tschilpen, Reiher kacken im Flug. Enten quaken … aber das ist nur der Klingelton von Jürgens Handy: Der Landdienst will wissen, wo wir sind.
Wir sind auf der Weser, ungefähr 20 Kilometer hinter Hann.-Münden. Es ist Freitag, der 18. Mai 2018, das Pfingstwochenende steht an.
12 MRGler haben sich zur Barkenfahrt verabredet. Vier Tage von Hann.-Münden nach Hameln, 135 Kilometer, alles zusammen. Heino und Jürgen, die sich die Fahrtenleitung teilen, haben die Strecke in sechs Etappen geteilt.
Am Freitag schaffen wir – nach dem Prolog „Mainz – Hann.-Münden“ mit der Minna – die erste Etappe „Hann.-Münden Gieselwerder“, rund 22 Kilometer mit der Barke. Auf dieser ersten Etappe werden die Kräfte deutlich, die während einer solchen Tour ziehen.
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So eine Barke ist das Gig-Boot unter den Gig-Booten. Ein breiter Kasten, auf jeder Seite vier Rollsitze für insgesamt acht Riemenruderer plus einer Bank für zwei Steuerleute. Rudertechnisch liegt die Herausforderung an Bord – neben dem Umgang mit dem ungewohnten Riemen, der mit zwei Händen gezogen wird – darin, dass sich zuerst die beiden Schlagleute auf einen Rhythmus einigen müssen. Im Gig-Boot rollt man dem Schlagmann bestenfalls einfach hinterher. In der Barke müssen erst Schlagmann Back- und Schlagmann Steuerbord ein Gefühl füreinander entwickeln, bevor sich die anderen im Boot im Gleichschlag eingrooven können. Aber schon bald ist klar, dass das erstens funktioniert und zweitens die Feinheiten gehobener Rudertechnik an diesem Wochenende nicht im Mittelpunkt, ja nicht einmal auf der Tageskarte stehen. Es ist „eine Wanderfahrt“, wie immer wieder von jemandem im Boot betont wird.
Zwischen den Rollsitzen an Back- und Steuerbord ist ein Mittelgang, der sich während der Etappen als praktische Picknickablage etabliert. An jedem Stemmbrett ist eine Schnur befestigt, in die man den Riemen einhängen kann, was ganz praktisch ist, weil die Riemen in der Hand während der vielen Treibphasen schon schwer werden können, wenn man gleichzeitig in der anderen eine Flasche hält und man ja auch noch ins Studentenfutter greifen will. Barkenfahrt ist kein Leistungstraining.
Weil die Barke so breit ist, kann sie nicht umkippen – anders als ein Gig-Vierer, den man auf Wanderfahrten auch während der Pause nie ganz ohne Kontrolle lassen kann. Die Barke kippt auch dann nicht, wenn die Blätter nicht auf dem Wasser liegen. Die Weser hat eine starke Strömung, rund 7 Km/h, durchaus ebenbürtig der des Rheins vor unserer Haustür. Aber wo der Rhein aus Wellen, Wind, Binnenschifffahrt, Wasserskifahrern und Rialos besteht, ist die Weser ein langer ruhiger Fluss. Man kommt hier auch vorwärts, ohne sich in die Riemen zu legen. Also sind die Phasen des sich-treiben-lassen zahlreich.
Einige von uns waren erst vor zwei Wochen hier, selbe Strecke, Hann.-Münden – Hameln, 135 Kilometer, aber an einem Tag im MRG-Gig „Loreley“, elf Stunden auf dem Wasser – nennt sich Wesermarathon. Zur aktuellen Fahrt ist das kein Vergleich. Selbst der Fluss ist trotz seiner identischen Windungen ein anderer. Das wird auf der letzten Etappe von Holzminden nach Hameln, 23 Kilometer lang, deutlich.
Vor zwei Wochen waren das die letzten zweieinhalb Stunden eines verdammt langen Rudertages, der Hintern brannte, Kräfte schwanden, die Landschaft leer, die Sinne dumpf – nur endlich raus hier. Heute, Pfingstmontag, rudern wir eine gemächliche Vormittagsetappe. Die Sonne scheint, alle paar Kilometer machen wir Pause, lassen uns treiben, genießen die Landschaft. Ganz still ist es, ein Milan kreist am Himmel, kabbelt sich mit einem Konkurrenten, weite grüne Flächen, Wiesen, Bäume, Schafe, Kühe ziehen vorbei. Das ist keine Landschaft für einen Wesermarathon, kein Ort für einen Leistungsnachweis. Zu dieser unaufgeregt ruhigen, gleichförmigen Landschaft, deren vordergründige Leere mich vor zwei Wochen an den Rand der Agonie brachte, passt die kontemplative Fortbewegung an Bord einer Barke.
Hojhhchch-pltschblbbublbb – Hujououochch-pltschblbbublbb – Hojhhchch-pltschblbbublbb – Hujououochch-pltschblbbublbb – klingen die Schläge meditativ im Ohr. Vom Ufer winken Griller, Enten treiben apathisch in der Strömung, Paddler drehen ihren Ghettoblaster auf, wenn wir vorbeigleiten.
Wir sind unterwegs von Höxter nach Polle. Die Sonne scheint, die Haribodose ist zur Hälfte geplündert, die Blase gefüllt und der Steg in Polle in Reichweite. Da kreuzt ein Gummiboot mit Außenborder unseren Weg, an Bord zwei übergewichtige ältere Herren mit Käppi, die augenscheinlich nichts von so Weicheier-Zeugs wie Sonnenmilch halten und entsprechen rot glänzen. Sie legen an dem von uns angepeilten Steg an; die beiden angrenzenden Stege sind schon mit Gummibooten belegt, würden die beiden rot stichigen Herren hier anlegen, müssten wir mangels Steg weiterfahren. Nicht mit Dirk.
Während wir vom Boot aus allerlei Hinweise rufen, stellt sich Dirk breitbeinig mitten auf den Steg, erklärt den Hobbybootlern, was es mit einem „Wander-Ruder-Steg“ auf sich hat, und dass für sie an einem solchen – also: hier – Absolutes Halteverbot herrsche. Die Herren in Rot ziehen leise murrend von dannen. Solche Regeln muss man kennen. Und man muss in der Lage sein, diese Kenntnis bar jeden Zweifel in der Stimmlage in knackige Aussagesätze ohne Nebensatz zu packen. Dirk kann beides. Bezeichnete man ihn als ein Urgestein der MRG, Dirk wäre wohl nicht gekränkt, eher würde er mit seiner markanten Kopfstimme sagen: „Ja sicher!“
Ein anderes Urgestein an Bord in Heino. Heino ist hier in der Region verwurzelt Heino kennt hier jeden Stein, an jeder Biegung der Weser liegt eine Geschichte, die er oder jemand aus seiner weitläufigen Familie erlebt hat. Heino hat die Tour organisiert und gemeinsam mit seinem Freund Jürgen auf die Beine gestellt. Das heißt: Alles passt nahtlos ineinander. Der Mann mit der Barke steht pünktlich an der NATO-Rampe in Hann.-Münden, die Hotels sind gebrieft, die Zimmer ordentlich, der Proviant an Bord mannigfaltig, geistreich und angemessen ungesund – und am für Royalisten und Fußballfans gleichermaßen wichtigen 19. Mai 2018 steigen wir in einem Hotel ab, das über einen großzügigen TV-Bildschirm in der Hotelbar verfügt.
Während unseres Landdienstes am Samstagvormittag haben Heino und ich Erdbeeren besorgt. Prinz Harry, Nummer Sechs in der Thronfolge der britischen Royals, wird heiraten und Anne hält es für angemessen, aus diesem Anlass Erdbeeren zu essen (an dieser Stelle der Erzählung grätscht zuverlässig Ingo ins Wort, Wieso Royals? Es ist Pfingsten und es ist Erdbeersaison und wir sind auf Wanderfahrt, da gehörten Erdbeeren dazu. Punkt.). Also hatten wir diverse Läden abgeklappert – Erdbeerstände am Straßenrand sind an der Weser da oben augenscheinlich eine exotische Idee – und waren nach mehrfachen „Nee, tut mir leid, keine Erdbeeren mehr da, Dienstag wieder“ in einem Aldi (ausgerechnet) fündig geworden.
Die Besatzung im Hotel zur Linde in Würgassen war so nett, uns die Erdbeeren zu waschen und stellte uns Schüsseln und Brotmesser zur Verfügung. Und als also Meghan Markle sich vor den Stadttoren von Windsor, abgeschirmt in einem Rolls Royce Phantom 4 zur Trauung fahren ließ, machte ich die Erfahrung, dass es eine sehr knubblige Arbeit ist, Erdbeeren mit einem einfachen Frühstücksbrotmesser zu schneiden und zu ent-grünen. Wir waren gerade damit fertig, da hatte die Barke angelegt, die wir morgens in Gieselwerder auf ihre zweite Etappe geschickt hatten. Das war Glückes Geschick gleich doppelt. Nicht nur bekamen die Barkenfahrer gleich nach der Landung frische Erdbeeren. Anne wurde auch ohne jede Hast Zeugin, wie Meghan Markle vor der Kapelle aus dem Rolls steigt und ihr 230.000 -Euro teures Hochzeitskleid aus der französischen Givenchy-Näherei der Weltöffentlichkeit präsentiert, und das jeweils kräftig gesprochene „I will“ beider Hauptbeteiligter bekam sie auch mit. Das ist schön. Schon vor Wochen hatte sie darauf gedrängt, an diesem 19. Mai auf der Barke mit TV-Gerät und Gurkensandwich versorgt werden zu wollen; das hat nicht geklappt, nun bekommt sie nahezu die volle Packung zur Mittagspause.
Bevor am Abend Hans auf seine Kosten kommt, lernen wir an der Bar Bärbel und Rolf aus der Nachbarschaft kennen. Beide rudern seit Anfang der 1960er Jahre und haben drei Ruderboote hinterm Haus liegen; sie schließen sich unserem kleinen Treck bis nach Höxter an und leihen sich für ihren gesteuerten Zweier Jürgen als dritten Mann.
Am Abend dieser Etappe fahren wir von Höxter aus zurück nach Würgassen, zurück in das Hotel mit der lauschigen Bar mit dem großen TV-Bildschirm. Hier richtet sich Hans ein, nachdem unsere kicker-App während des Abendessens ein frühes 1:0 für Eintracht Frankfurt im DFB-Pokalfinale gegen Bayern München meldet. Nach dem Abpfiff steht es 3:1 für Frankfurt, die Welt in der kleinen Hotelbar wirkt für die meisten hier wieder in Ordnung.
Dann ist da noch die Nacht von Polle. Polle ist der Ort, an dessen Steg Dirk zwei von der Sonne angeknusperten Gummibootfahrern die Sache mit dem Wander-Ruder-Steg erklärt. Polle ist auch der Ort, an den wir, nachdem wir unser Boot nach der fünften Etappe am Sonntagabend in Holzminden festgemacht haben, zurückkehren und im Hotel zur Burg übernachten – und vorher in einem Fischrestaurant am Fluss dinieren und dabei ein paar Bier aus der Brauerei Allersheimer trinken – wo die Assoziation zum Alzheimer kalauerisch schmerzhaft auf der Hand liegt.
„Einen Mann, der keinen Durst hat, gibt es nicht.“ war so ein Spruch, den uns eine Hotelgästin im beiläufigen Von-Tisch-zu-Tisch-Gespräch zuwarf. Und als ich am nächsten Morgen in den Frühstückssaal komme, raunt mir einer zu: „Sei froh, dass Du nicht mehr mitgekommen bist gestern Abend. Da ging noch richtig die Post ab. Das wären Fotos geworden, uiuiui.“ Meine Frage, ob ich da mehr erfahren könne, bleibt unbeantwortet.
So ist der Chronist an dieser Stelle auf Spekulationen angewiesen. Weil wir aber eine seriöse Publikation sind, wollen wir ungeprüftes Hörensagen nicht weiterreichen, lieber dem schönen Brauch des What Happens on the Wanderfahrt, stays on the Wanderfahrt folgen.
Spätestens, wenn wir am nächsten Morgen ins Boot steigen, verfliegen die Nachwirkungen: Bewegung an frischer Luft und ein paar aufmunternd gebellte Kommandos des Steuermannes vertreiben jeden Kater.
Und wenn wir dann ganz still sind, hören wir den Wind rauschen, Vögel tschilpen, im Flug kackende Fischreiher; und quakende Enten. Dann will der Landdienst wissen, wo wir sind.
Chronist: Christoph Hartung // Fotos: Heiko Schneiders, Christoph Hartung