Zwei Ruderer im Doppelvierer mit Steuermann im Mittelrheintal an der Pfalz/Kaub
Rudern: Ein Doppelvierer mit Steuermann auf dem Rhein bei Boppard
In wasserdichten Säcken haben Ruderer bei St. Goar ihre Vorräte, Lebensmittel und Snacks verstaut, die sie während ihrer Wanderfahrt im Boot vielleicht benötigen.
Mann im Ruderboot unter einem leicht bewölkten Himmel.

Mit vier Booten nach Lahnstein

Eine Wanderfahrt durchs Mittelrheintal

Im Binger Loch frage ich mich, was ich hier eigentlich tue. Wäre mein Wochenende nicht doch schöner gewesen, wenn Kevin „Kopf“ und ich „Zahl“ gesagt hätte? Es ist nicht gar so wild wie vor zwei Wochen, als wir hier in einer Trainingsfahrt durchgestolpert sind, aber freundlich ist das Loch auch heute nicht mit uns.

Wellen, Gegenwind, Tanker nach Tanker, wie Glieder einer Kette, noch mehr Wellen, Mittelständler mit Kapitänsmütze und cleverem Steuerberater, die sich mit ihren PS-starken Steuerabschreibungen testosteronhaltige Vergleichsduelle mit anderen Kapitänsmützenträgern liefern, Wellen aus drei Richtungen. Halbe Kraft! Ruder halt! Alles vorwärts, Los! Ohne Kraft! Ruder halt! Alles vorwärts! Halbe Kraft und Los! BOOT STOPPEN!!! Was mache ich hier eigentlich? Ich möchte die Ingenieure verfluchen, die das Loch im 17. Jahrhundert erst zum Loch gemacht haben.

Vor einer Wanderfahrt werden die Boote einer genauen Inspektion unterzogen.

Bis dahin war der Rhein bei Bingen, diese meist befahrene Wasserautobahn Deutschlands, eine vergleichsweise ruhige Landstraße. Da gab es dieses Quarzit-Riff, das quer zum Flusslauf lag und vielen Lastschiffen die Passage verwehrte. Dann kamen die Ingenieure, sprengten ein Loch ins Riff und heute geht es bei Rheinkilometer 530,8 zu wie am Kamener Kreuz zur Urlaubssaison – und von dem in der Folge mehrfach noch kleiner gesprengten Riff sieht man nur noch einzelne Felsen wie Zahnstumpen aus dem Strom ragen; beinahe wäre wegen dieser Sprengungen in Mainz der Dom eingestürzt, weil der Grundwasserspiegel sank, aber das ist eine andere Geschichte. In Rio de Janeiro, bei den Olympischen Spielen, hatten sie die Ruderqualifikationen wegen starken Winds verschoben, die Verantwortlichen sagten, bei so einem Wetter habe ihr Sport „nichts mit Rudern zu tun“. Das, was wir hier am Binger Loch machen, hat mit Rudern auch nichts zu tun.

Aber wir kommen durch. Natürlich kommen wir durch. Mit Geduld, unter Ignorieren von Krämpfen und mit kürzer werdenden Schlägen schaffen wir es auch dieses Mal. Wir sind auf Wanderfahrt. Zwei Tage im August, von Mainz nach Lahnstein, rund 85 Kilometer den Rhein runter, vorbei an Rüdesheim, Mäuseturm, Burg Pfalzgrafenstein – aka „Pfalz bei Kaub“ – Loreley und allerlei Burgen und Weinbergen. Auf vier Boote verteilt rudert eine vereinsübergreifende, ja internationale Truppe. Sie kommen aus Weisenau, Worms, Speyer und Österreich – das ja nicht nur aus Alpen besteht, sondern auch aus ruderbarem Wörthersee.

Im Ruderboot auf dem Rhein im Mittelrheintal hinter Boppard

Jürgen hat organisiert, zusammen mit Tochter Julia und den beiden Sabines. Ausführlich zu referieren also, dass alles reibungslos geklappt hat, niemand hungern musste und jeder ein Bett hatte, ist folglich wie Eulen nach Athen tragen. Natürlich hat alles reibungslos geklappt!

Für mich war es die erste Wanderfahrt seit vielen Jahren. Das Tempo einer WaFa ist ungewohnt, wenn man ansonsten mit fordernder Schlagzahl Flüsse durchpflügt, weil man auf einen Marathon hin trainiert. „Es ist eine Wan-der-fahrt!“, werde ich mehrfach ermahnt, wenn ich auf Schlag in alte Muster falle, „lass Dir Zeit!“ Bis zum Bootshaus in Geisenheim, das wir zu anderen Zeiten nach einer Stunde rechts liegen lassen, brauchen wir zwei Stunden und machen Mittagspause. Tische sind reserviert, alle werden satt, obwohl die Küche einen Cheeseburger vergessen hat. So gestärkt queren wir das Binger Loch.

Die Besatzungen sind bunt gemischt, was den Vorteil hat, dass wir uns während der vielen Pausen, in denen die Versorgungstonnen an Bord Weingummi, Doppelkekse und geistige Getränke liefern, untereinander kennenlernen; und den Nachteil, dass wir unsere unterschiedlichen Rudertechniken erst angleichen müssen. Aber erstens: So was sind Ruderer gewöhnt. Und zweitens: Das Binger Loch schweißt zusammen. Als der Rhein uns in der Kurve der Loreley nochmal durchschütteln will, rudern wir durch und haben Blick für die Schönheiten um uns herum. Kurz vor 19 Uhr liegen alle vier Boote im grünen Gras vor St. Goar, während die 24 ihre Zimmer hoch über dem Rhein beziehen.

Ich verdanke meinen Platz im Boot einem Münzwurf. Drei Tage vor Start war plötzlich ein Platz frei geworden, im Hoffnungslauf lagen Kevin und ich gleichauf, eine Münze sollte entscheiden, Kevin sagte „Zahl“, ich gewann und stelle nun fest, dass die Strecke jenseits der Loreley mit ihren Burgen und Schlössern – Tag zwei unserer Tour – noch schöner ist; die Strecke bis zur Loreley ist dafür spektakulärer, was dann auch wieder mit jenem vielbesungenen, rauen Binger Loch zu tun hat.

Bis Boppard ist der Rhein unruhig. Der Himmel ist blau, die Temperaturen sind sommerlich, zu den Tankern haben sich die Ausflugsboote der KD gesellt, die Wellen stehen hoch; aber es ist eben der Rhein und nicht die Mosel. Wir kommen gut voran, Doris erzählt Geschichten und Histörchen über die umliegenden Burgen, die Zeit verfliegt, in Boppard ist nach 15 Kilometern schon wieder Zeit für Picknick und nach nochmal 18 Kilometern sind wir am Ziel.

Nein, nicht am Ziel. Hier in Lahnstein sind wir am Ende unseres Ziels. Bei dieser Rheintour war der Weg das Ziel. Das – alle Wellen und Wasser – Beruhigende an diesem Sehnsuchtsfluss ist seine Schönheit, seine Beständigkeit (Bilder, die das unterstreichen, sind hier). Der Rhein lasse „unter der Durchsichtigkeit seiner Fluten Vergangenheit und Zukunft Europas ahnen“, schrieb Victor Hugo. Die 65 historischen Burgen im Mittelrheintal mit ihrer jeweiligen Geschichte machen uns in unseren kleinen Ruderbooten zum Teil von etwas Größerem. So gesehen ist es schon in Ordnung, wenn am Südportal des Mittelrheins das Binger Loch uns für die Schönheit, die folgt, gebührend auf die Probe stellt.
Gut, dass ich „Kopf“gesagt habe.

Christoph Hartung, August 2016